Warum „Jedes Kind kann schlafen lernen“ nicht mehr zeitgemäß ist: eine kritische Betrachtung
Viele Eltern kennen das Buch „Jedes Kind kann schlafen lernen“ von Dr. med. Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth. Seit seiner Veröffentlichung 1995 wurde es millionenfach verkauft. Doch was lange als „Geheimwaffe“ für schlaflose Nächte galt, wird heute zunehmend kritisch gesehen. Denn der im Buch propagierte Weg, einem Kind das Schlafen beizubringen, steht im Widerspruch zu dem, was wir heute über die emotionale Entwicklung, das kindliche Nervensystem und die Bedeutung von Bindung wissen.
Was genau steckt hinter dem Konzept?
Das Buch basiert auf einer Form des kontrollierten Schlaftrainings, bei dem das Kind nach einem festen Zeitplan allein gelassen wird, auch wenn es weint. Die sogenannten „Einschlafprobleme“ sollen sich laut Autoren dadurch lösen, dass das Kind lernt, ohne elterliche Hilfe einzuschlafen. Dies tut man durch Gewöhnung an die Situation. Doch hier liegt der Denkfehler: Das Kind lernt nicht, einzuschlafen. Es lernt, nicht mehr zu weinen. Ich erkläre dir gerne, warum?
Die stille Gefahr: Resignation statt Entspannung
Wenn ein Baby schreit und niemand kommt, gerät sein Nervensystem in Alarmbereitschaft. Es schüttet Cortisol (das Stresshormon) aus und sein ganzes System geht in den Überlebensmodus. Wenn dieses Signal über längere Zeit nicht beantwortet wird, passiert etwas Beunruhigendes: Das Kind hört auf zu schreien. Nicht, weil es gelernt hat, sich zu beruhigen, sondern weil es resigniert. In der Entwicklungspsychologie sprechen wir hier von erlernter Hilflosigkeit. Das Kind gibt auf. Es wirkt ruhig, aber es ist innerlich hoch gestresst und emotional auf sich allein gestellt. Dieser Zustand kann langfristige Auswirkungen haben:
Erschüttertes Urvertrauen: Das Gefühl „Ich werde gehört und meine Bedürfnisse zählen“ wird untergraben.
Schwierigkeiten in der Selbstregulation: Emotionale Selbstberuhigung kann sich nur durch Co-Regulation mit den Eltern entwickeln.
Bindungsunsicherheit: Wenn Nähe unzuverlässig oder verweigert wird, entsteht Misstrauen; manchmal noch Jahre später.
Warum Eltern trotzdem denken, „es hat geholfen“
Viele Eltern berichten: „Nach zwei, drei Nächten hat mein Kind durchgeschlafen.“ Das kann sein. Aber dieser „Erfolg“ ist trügerisch. Er basiert oft nicht auf echtem Schlaflernen, sondern auf Schweigen durch Rückzug. Das Kind wirkt ruhig, weil es innerlich aufgegeben hat. Dieser Effekt wird oft mit Selbstständigkeit verwechselt, ist in Wahrheit aber ein Schutzmechanismus. Und das Tragische: Viele Eltern leiden dabei selbst, spüren intuitiv, dass etwas nicht stimmt, werden aber durch kurzfristige Erfolge bestärkt.
Was Tiere vormachen: Schlaf braucht Nähe, nicht Training
Ein Blick in die Natur hilft, wieder zu vertrauen: Kein einziges Säugetierbaby schläft allein. Kätzchen liegen im warmen Fell der Mutter, Affenbabys umklammern ihren Körper, selbst Wölfe und Hunde schlafen in engem Rudelkontakt. Und niemand käme auf die Idee, dies als „schlecht für die Erziehung“ zu sehen. Auch Menschenbabys sind biologisch auf Nähe programmiert. Ihr Nervensystem ist unreif. Sie brauchen die Regulation von außen: Körperkontakt, Stimme, Atemrhythmus der Bezugsperson. Schlafen ist für sie kein technischer Ablauf, sondern ein Loslassen in Sicherheit.
Zeitgeist der 90er vs. Wissen von heute
Das Buch „Jedes Kind kann schlafen lernen“ stammt aus einer Zeit (1990er-Jahre), in der elterliche Erschöpfung und gesellschaftlicher Druck nach schnellen Lösungen riefen. Kinder sollten möglichst früh „funktionieren“: schlafen, essen, alleine sein. Dass dies häufig auf Kosten emotionaler Entwicklung geschieht, wurde lange ausgeblendet. Heute wissen wir es besser. Bindungsforschung, Neurobiologie und Psychotraumatologie haben klar gezeigt:
Frühe Stresserfahrungen hinterlassen Spuren.
Emotionale Sicherheit ist die Grundlage für gesunde Selbstständigkeit.
Schlaf ist ein Reifeprozess, kein Verhalten, das man „abtrainieren“ muss.
Es geht nicht um Schlaf. Es geht um Beziehung
Es ist okay, müde zu sein. Es ist okay, sich Unterstützung zu wünschen. Aber Kinder schlafen nicht besser, wenn sie allein sind. Sie schlafen besser, wenn sie sich sicher fühlen. Wenn sie wissen: Jemand ist da. Ich werde gehalten und dies auch in der Nacht. Es braucht keine Programme. Es braucht Beziehung. Und Eltern, die sich trauen, ihrem Gefühl zu vertrauen, auch wenn der gesellschaftliche Druck manchmal etwas anderes sagt.
Herzlichst,
Michelle
Ohana Beratung