„Du bist nicht deine Note“ Was Zeugnisse mit unseren Kindern machen und was sie wirklich brauchen
Es ist wieder Zeugniszeit. In vielen Kinderzimmern herrscht in diesen Tagen gespannte Stimmung. Manche Kinder freuen sich, andere schweigen, ziehen sich zurück, wirken gereizt oder besonders bemüht. Nicht wenige schlafen schlecht, haben Bauchweh oder sagen Sätze wie:
„Mama, bist du dann sauer auf mich?“ „Papa, bekomme ich Ärger, wenn ich eine Drei habe?“
Und in den Herzen vieler Eltern? Da ist oft auch ein Knoten: Sorge, Enttäuschung, alte Erinnerungen. Vielleicht sogar Wut oder Hilflosigkeit. Denn auch wir haben sie erlebt: Diese Momente, in denen ein Stück Papier über unseren Wert zu urteilen schien.
Zeugnisse sind nicht neutral
Sie kommen im Mäppli oder werden feierlich ausgeteilt. Manchmal im Plenum, manchmal still am Platz. Und sie tun so, als könnten sie sagen, was ein Kind kann oder eben nicht kann. Doch das tun sie nicht. Ein Zeugnis ist keine Wahrheit. Es ist eine Momentaufnahme. Ein Ausschnitt. Und oft leider nur ein sehr kleiner.
Was Zeugnisse nicht zeigen
Sie zeigen nicht, wie dein Kind sich täglich bemüht, sich durch schwierige Aufgaben kämpft, mutig fragt, auch wenn es sich unsicher fühlt. Sie zeigen nicht, wie es einem anderen Kind geholfen hat, wie es sich für Gerechtigkeit eingesetzt oder wie es mit Rückschlägen umgegangen ist. Sie sagen nichts über Fantasie, über die Fähigkeit zu trösten, über Kreativität oder darüber, wie viel Mut es braucht, überhaupt jeden Morgen aufzustehen und wieder hinzugehen, obwohl Schule vielleicht gerade schwer ist. Und doch bewirken sie so viel, denn Kinder nehmen sie ernst. Oft ernster, als wir denken. Für sie bedeutet eine schlechte Note manchmal nicht nur: „Ich habe etwas nicht verstanden.“ Sondern:
„Ich bin nicht gut.“ „Ich bin eine Enttäuschung.“ „Ich schaffe das nie.“Und wenn sie erleben, dass Eltern enttäuscht oder ärgerlich reagieren – selbst aus gut gemeinter Sorge –, dann verknüpfen sie Leistung mit Liebe. „Wenn ich gut bin, werde ich geliebt. Wenn nicht, werde ich weniger gesehen.“ Das trifft ins Herz. In ihr kleines, empfindsames Herz, das eigentlich vor allem wissen will: „Bin ich richtig, so wie ich bin?“
Was Kinder in der Zeugniszeit wirklich brauchen
Nicht Lob für 6er. Nicht Strafen für 4er. Sondern:
Einen sicheren Ort. Ein Ort, an dem sie wissen: „Ich darf sagen, wie es mir geht und zwar ohne Angst.“
Einen Menschen, der hinschaut. Nicht nur auf die Note, sondern auf das Kind dahinter. Auf seine Mühe, auf seine Erschöpfung, auf seinen Stolz oder seine Traurigkeit.
Eine Stimme, die sagt: „Ich sehe dich. Nicht dein Zeugnis. Ich bin stolz auf dich. Nicht auf deine Note.“
Warum wir Zeugnisse kritisch sehen dürfen und sollten
Weil sie:
Kinder auf Zahlen reduzieren
Lernen in Wettbewerb verwandeln
den Fokus auf Fehler statt auf Entwicklung legen
oft mehr über das System aussagen als über das Kind
das Selbstbild und Selbstwertgefühl dauerhaft beeinflussen können
Und weil das, was ein Kind wirklich stark macht, in keinem Zeugnis steht: Seine Ausdauer. Seine Träume. Sein Mitgefühl. Sein Mut, weiterzumachen, selbst wenn es schwer ist. An dieser Stelle möchte ich dir gerne den Instagram-Account von @learnlearning.withcaroline empfehlen. Sie liefert immer wieder fundiertes Wissen zum Lernen allgemein.
Und wenn du das selbst schwer aushältst?
Wenn du spürst, dass dich das schlechte Zeugnis deines Kindes wütend oder traurig macht, dann sei sanft mit dir. Vielleicht wurdest du selbst daran gemessen. Vielleicht hast du gelernt, dass Liebe von Leistung abhängt. Vielleicht ist in dir noch immer das Kind, das nie gut genug war. Aber du darfst heute anders handeln. Du darfst heute sagen:
„Ich sehe dich. Ich liebe dich. Ich gehe mit dir durch dieses Zeugnis hindurch. Nicht wegen, sondern gerade weil es dich belastet.“
Ein anderer Weg ist möglich
Beziehungsorientierte Erziehung bedeutet nicht, Leistung unwichtig zu finden. Sondern sie nicht über das Kind zu stellen. Es bedeutet: Zuhören statt urteilen, Begleiten statt kontrollieren, Sprechen statt bewerten. Und wenn du dabei Unterstützung brauchst, wenn du merkst, dass Zeugnisse in deiner Familie jedes Mal zum Thema werden, das verletzt oder trennt, dann darfst du dir Hilfe holen. Nicht, weil du versagt hast. Sondern weil du bereit bist, neue Wege zu gehen.
Ich begleite dich gern mit Herz, Klarheit und Respekt für dich und dein Kind. Denn hinter jeder Note steht ein Mensch. Und dieser Mensch verdient mehr als ein „ausreichend“ oder ein „ungenügend“. Er verdient gesehen zu werden.
Herzlichst,
Michelle
Ohana Beratung