Nicht jedes Kind erlebt die gleichen Eltern
Nicht jedes Kind erlebt die gleichen Eltern: Warum Geschwister trotz gleicher Eltern unterschiedliche Kindheiten erfahren
„Geschwister sind wie verschiedene Blätter am selben Baum – sie wachsen in unterschiedliche Richtungen, doch ihre Wurzeln sind dieselben.“
Und dennoch berichten viele Erwachsene: „Meine Schwester und ich hatten komplett verschiedene Eltern.“ Was auf den ersten Blick widersprüchlich klingt, ist aus psychologischer Sicht gut nachvollziehbar. In meiner Arbeit mit Familien und Paaren zeigt sich immer wieder: Auch wenn Kinder unter einem Dach aufwachsen, ist ihr Erleben einzigartig. In diesem Artikel beleuchte ich, warum das so ist, und zeige anhand von Beispielen, welche Faktoren dabei eine Rolle spielen.
1. Zeitliche Abstände und Lebensphasen
Eltern befinden sich in ständiger Entwicklung. Dies sowohl persönlich, beruflich als auch emotional. Ein erstgeborenes Kind erlebt vielleicht junge, idealistische Eltern, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen. Das dritte Kind kommt zur Welt, wenn die Eltern bereits viele Erfahrungen gemacht haben – vielleicht entspannter, vielleicht erschöpfter.
Beispiel:
Lena (32) berichtet: „Meine große Schwester durfte mit 16 noch keine Party besuchen. Ich durfte mit 14 allein in den Urlaub fahren. Meine Eltern waren da viel lockerer.“
2. Psychische Verfassung der Eltern
Emotionale Verfügbarkeit hängt stark davon ab, wie es den Eltern geht. Depression, Burnout, Überforderung oder Ängste und Schicksalsschläge beeinflussen unweigerlich das Familienklima.
Beispiel:
Tom (29) erzählt: „Als ich klein war, war meine Mutter oft traurig und abwesend. Sie hatte nach der Geburt meiner Schwester eine Wochenbettdepression. Als mein Bruder kam, war sie wie ausgewechselt.“
3. Beziehungsdynamiken der Eltern
Die Qualität der Paarbeziehung verändert sich über die Jahre. Spannungen, Trennungen oder auch ein neuer Partner können die Eltern-Kind-Beziehung stark beeinflussen.
Beispiel:
Sara (38): „Meine Eltern stritten sich ständig, als ich klein war. Bei meinem jüngeren Bruder waren sie schon getrennt. Das war traurig, aber irgendwie friedlicher.“
4. Externe Belastungen und Ressourcen
Finanzielle Sorgen, Wohnsituation, familiäre Unterstützung: All das prägt das Familienleben. Großeltern, die bei einem Kind noch helfen konnten, sind beim nächsten vielleicht krank oder verstorben.
Beispiel:
„Meine Oma hat mich jeden Tag aus dem Kindergarten abgeholt. Als mein Bruder kam, war sie im Pflegeheim. Unsere Eltern waren dadurch viel gestresster.“
5. Das Temperament des Kindes
Kinder bringen ihre ganz eigene Persönlichkeit mit und Eltern reagieren darauf individuell. Manche Kinder fordern mehr Aufmerksamkeit, andere wirken unabhängiger.
Beispiel:
Nico (41): „Meine Eltern waren bei mir ständig besorgt. Ich war ängstlich und oft krank. Mein Bruder war unerschrocken und er hatte viel mehr Freiheiten.“
6. Veränderung von Werten und Erziehungsstil
Erziehungsstile verändern sich. Dies kann durch neue Erkenntnisse, Bücher, Podcasts, persönliche Reifung geschehen. Eltern lernen dazu und reflektieren frühere Entscheidungen.
Beispiel:
„Beim ersten Kind haben wir noch jede Stunde gestillt, Schlafprotokolle geführt. Beim zweiten haben wir vieles intuitiver gemacht und mehr auf unser Gefühl gehört.“
7. Gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse
Auch gesellschaftliche Trends und Erwartungen verändern sich. Was früher als „normal“ galt, wird heute oft kritischer betrachtet (z. B. körperliche Strafen, Rollenbilder, Umgang mit Emotionen).
Beispiel:
„Ich musste noch „hart“ erzogen werden. Mein Bruder bekam mit fünf schon ein Kindercoach-Buch und durfte seine Gefühle ausdrücken.“
Was bedeutet das für uns als Eltern oder Geschwister?
Reflexion statt Schuld: Eltern verändern sich und das ist normal. Es geht nicht darum, sich Vorwürfe zu machen, sondern zu verstehen, wie Dynamiken entstehen.
Raum für die eigene Geschichte: Jeder darf seine Perspektive haben; auch wenn sie sich von der der Geschwister unterscheidet.
Verbindung durch Verständnis: In der Beratung schaffen wir Raum, um Unterschiede zu erkennen, zu betrauern oder zu würdigen und oft entstehen dadurch neue Formen der Verbindung.
Vielleicht hast du dich beim Lesen in einzelnen Punkten wiedererkannt: als Elternteil, als Geschwisterkind oder auch einfach als Mensch mit einer ganz eigenen Familiengeschichte.
Das Ziel ist nicht, Schuldige zu finden, sondern Zusammenhänge zu verstehen.
Denn genau darin liegt oft der erste Schritt zur Heilung. Für unser inneres Kind, für unsere Beziehungen und für den Umgang mit unseren eigenen Kindern.
Elternschaft ist kein statischer Zustand. Sie verändert sich – mit jeder Erfahrung, mit jedem Kind, mit jedem Tag.
Und vielleicht hilft dir dieser Gedanke, milder auf deine eigene Geschichte zu blicken. Oder mit mehr Verständnis auf die Dynamiken in deiner Familie.