Wenn Nähe zu viel wird: Wie gesunde Abgrenzung Beziehungen stärkt
Viele Paare und Familien wünschen sich Nähe und geraten doch genau daran ins Stolpern. Zu viel Nähe kann erdrücken, zu wenig lässt uns vereinsamen. Dazwischen liegt ein feines Gleichgewicht, das wir meist erst suchen, wenn es schon wackelt.
Jesper Juul (war ein dänischer Familien- und Paartherapeut, der mit seinen Ideen von Gleichwürdigkeit, Authentizität und Verantwortung die moderne Beziehungsarbeit entscheidend geprägt hat) hat diesen Punkt sehr klar beschrieben: Nur wer gut für sich selbst sorgt, kann wirklich in Beziehung sein. Nähe ist keine Frage der Intensität, sondern der Freiheit. Und Freiheit braucht Grenzen.
Warum Nähe manchmal zu viel wird
Oft geschieht es schleichend. Eine Partnerin spürt, dass sie ständig verfügbar sein soll, emotional, körperlich, kommunikativ. Ein Vater fühlt sich verantwortlich für jedes Gefühl seines Kindes. Eine Mutter versucht, alle Bedürfnisse ihrer Familie zu erfüllen, bis keine Energie mehr für sie selbst bleibt.
In all diesen Situationen wird Liebe mit Selbstaufgabe verwechselt. Das passiert nicht aus Egoismus, sondern aus Angst, die Verbindung zu verlieren. Doch je mehr wir uns anpassen, desto mehr verlieren wir uns selbst.
Erste Schritte zur gesunden Abgrenzung
1. Spüre dich selbst, bevor du reagierst.
Wenn du dich überfordert oder genervt fühlst, halte kurz inne. Frage dich: Was brauche ich gerade? Oft ist es Ruhe, Raum oder einfach ein Moment, um durchzuatmen. Diese Selbstwahrnehmung ist der erste Schritt, um wieder handlungsfähig zu werden.
2. Sprich in Ich-Sätzen.
Sag nicht: „Du bist so anstrengend“ oder „Ihr lasst mir keine Ruhe“, sondern: „Ich merke, ich brauche gerade ein bisschen Zeit für mich.“ Damit bleibst du bei dir, ohne den anderen zu beschuldigen. Das senkt die Spannung und schafft Verständnis.
3. Mach Pausen sichtbar und planbar.
Abgrenzung gelingt besser, wenn sie berechenbar ist. Vereinbare mit deinem Partner oder deiner Familie feste Momente, in denen du Zeit für dich hast. Zum Beispiel: „Jeden Samstagmorgen trinke ich meinen Kaffee allein auf dem Balkon.“ Wenn alle wissen, dass dieser Raum dir gehört, wird er leichter respektiert.
4. Nähe bewusst gestalten.
Qualität statt Dauer. Nähe entsteht nicht durch ständige Erreichbarkeit, sondern durch bewusste Aufmerksamkeit. Lieber zehn Minuten echtes Zuhören als stundenlanges Nebeneinanderher. Frag dich: Wann bin ich wirklich präsent und wann funktioniere ich nur noch?
5. Grenzen liebevoll benennen.
Kinder und Partner lernen an unserem Verhalten. Wenn du deine Grenzen freundlich, aber klar aussprichst, vermittelst du: Ich nehme mich ernst und dich auch. So entsteht Vertrauen, keine Distanz.
Wenn Abgrenzung schwerfällt
Viele Menschen tragen alte Muster in sich. Die Angst, egoistisch zu wirken, oder das Gefühl, nur dann geliebt zu werden, wenn sie sich anpassen. Hier lohnt es sich, genauer hinzusehen, vielleicht mit Unterstützung eines Beraters oder Therapeuten. Gesunde Abgrenzung ist keine Technik, sondern ein Lernprozess, der Mut braucht.
Mein persönliches Fazit
Nähe braucht Grenzen, um lebendig zu bleiben. Wer gut für sich sorgt, ist auch besser für andere da. Abgrenzung ist kein Rückzug aus der Beziehung, sie ist ihre Voraussetzung.
Wenn du beginnst, auf deine Bedürfnisse zu achten, entsteht etwas Neues: echte Begegnung. Kein Rückzug, keine Kälte, sondern Wärme, die aus Klarheit entsteht.
Herzlichst,
Michelle
Ohana Beratung